Klassik Heute 9/10/9
October 7, 2022
Thomas Baack
KLASSIK HEUTE (Germany)
9/10/9
Der Komponist Poul Ruders (Jg. 1949) feiert seine Erfolge vorwiegend in den angelsächsischen Ländern und natürlich in seiner Heimat Dänemark. Sein Schaffen ist – ungewöhnlich für einen Zeitgenossen – umfänglich bei den Labels Bridge Records und Globe auf Tonträger dokumentiert. Jetzt haben sich die Rudersdal Kammersolister, die im Kern ein Klavierquartett bilden mit dem Klarinettisten Jonas Frølund und der Geigerin Isabelle Bania verstärkt, um drei von Ruders Kammermusikwerken erstmalig einzuspielen.
Multistilist
Da ich nur sehr bedingt der Spezialist für Zeitgenössisches bin, habe ich mich über den wohl bedeutendsten lebenden dänischen Komponisten erst einmal schlau machen müssen. Er beherrscht sowohl das tonale Metier (Paganini-Variationen) als auch Unterhaltliches (Suite aus Kafka`s Process). Seine Oper Selma Jezková wurde 2015 bei den Münchner Opernfestspielen aufgeführt.
Die hier eingespielten anspruchsvollen Kammermusikwerke erfordern jedoch eher erfahrene Hörer. Wer etwas mit dem Klarinettenquintett des jungen Paul Hindemith, Alban Bergs Lyrischer Suite oder Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps anfangen kann, dürfte wenig Schwierigkeiten haben, dem Verlauf der Werke zu folgen. Hierbei helfen auch die vom Komponisten – allerdings nur auf Englisch – für das Booklet verfassten Hinweise.
Das Klarinettenquintett (2014) gibt sich im ersten Satz Avanti Alla Breve etwas ruppig-expressionistisch. Zentral ist hier der Mittelsatz Adagio sognante der vom Klarinettisten eine stupende Atemtechnik verlangt. Ohne Permanentatmung, d.h. Luft im Mund sammeln und damit weiterblasen, während man gleichzeitig durch die Nase nachatmet, sind die gnadenlos langen Linien der Traummelodie (sognante=träumend) überhaupt nicht darzustellen. Hinzu kommen Schwelltöne in allerhöchster Lage und gelegentliche Flageoletts (mit minimalem Atemdruck erzeugte schwebende Töne im ppp). Das Finale referenziert am Schluss nochmal auf die Traummelodie, gibt sich dabei aber ansonsten eher robust mit Anklängen an Strawinsky und Hindemith, wobei immer wieder beruhigende Abschnitte eingeflochten werden.
Throne (1988) für Klarinette und Klavier hat den am stärksten avantgardistischen Charakter. Es gibt beiden Partnern Zeit mit Klängen unterschiedlichster Art zu jonglieren. Der Pianist muss unterschiedliche Effekte erzeugen und – so wie es klingt – sein Instrument à la John Cage vorher präparieren. Es ist über die Assoziationskette Erhebung, Einheit, Diamanten, Krone, Ruhm, Samt, Zerbrechlichkeit, Verfall, Vergessenwerden, Nichts komponiert, weshalb das Stück mit einer langen Generalpause endet.
Das viersätzige Klavierquintett (2016) ist zyklisch angelegt und beginnt mit einer unschuldigen Melodie in Dur, die das langsame Erwachen einer Blume mit dem Ausstrecken der Blütenblätter schildert. Diese wird im Tagesablauf in den folgenden Sätzen unterschiedlich gedehnt und gestresst, um am Ende wieder in fast unveränderter Gestalt zurückzukehren und die Blütenblätter zu schließen. Die Sätze schließen alle mit demselben Refrain. Das ist vom Programm her nachvollziehbar, doch muss es sich in diesem Fall um eine recht robuste Blüte handeln.
Kongeniale Interpretationen
Gemäß den Intentionen des Komponisten stehen hier Klarinettist Jonas Frølund und Pianist Manuel Esparilla stärker im Rampenlicht als Christine Pryn, Isabelle Bania (Vl.), Mina Fred (Va.) und John Ede (Vc.). Frølund verfügt über einen schier endlosen Atem. Die klangschöne Produktion der Töne in der dreigestrichenen Oktave in allen dynamischen Graden muss ihm erst einmal jemand nachmachen. Sehr überzeugend auch seine ungemein präzise Intonation in Unisono-Passagen mit Klavier sowohl im ff wie auch im pp und seine Flageoletts sind wirklich köstlich. Esparilla realisiert seinen rhythmisch teilweise kniffligen Part höchst überzeugend. Die Streicher steuern Farbe und eine wundervoll präzise Intonation in den Klangflächen mit Reizakkorden bei.
Aufnahmetechnisch wird das Geschehen plastisch und mit einer großen Spannweite der Dynamik abgebildet. Und wer könnte seine Werke besser kommentieren als der Schöpfer selbst?
Fazit: Eine SACD für Menschen, die offen für Zeitgenössisches sind. Wer bei Messiaen aussteigt, sollte besser die Finger davon lassen, es sei denn, er wäre Klarinettist. Denn für diese handelt es sich um einen Pflichtkauf!
http://www.klassik-heute.de/4daction/www_medien_einzeln?id=24077&CDS30
Google translation:
The composer Poul Ruders (b. 1949) celebrates his success mainly in the Anglo-Saxon countries and of course in his native Denmark. His work is - unusual for a contemporary - extensively documented on the labels Bridge Records and Globe on sound carriers. Now the Rudersdal Chamber Soloists, which essentially form a piano quartet, have joined forces with clarinetist Jonas Frølund and violinist Isabelle Bania to record three of Ruders chamber music works for the first time.
multi-stylist
Since I'm only a very limited specialist in contemporary music, I first had to find out about what is probably the most important living Danish composer. He has mastered both the tonal metier (Paganini Variations) and the entertaining (Suite from Kafka's Process). His opera Selma Jezková was performed at the Munich Opera Festival in 2015.
However, the demanding chamber music works recorded here require more experienced listeners. Anyone familiar with the young Paul Hindemith's clarinet quintet, Alban Berg's Lyric Suite or Olivier Messiaen's Quatuor pour la fin du temps should have little difficulty following the course of the works. The notes written by the composer for the booklet – albeit only in English – also help here.
The Clarinet Quintet (2014) is somewhat rough and expressionistic in the first movement Avanti Alla Breve. Central here is the middle movement Adagio sognante, which requires a stupendous breathing technique from the clarinettist. Without permanent breathing, i.e. collecting air in the mouth and blowing it on while simultaneously breathing through the nose, the mercilessly long lines of the dream melody (sognante=dreaming) cannot be represented at all. There are also swells in the very highest register and occasional flageolets (suspended tones in ppp produced with minimal breath pressure). The finale references the dream melody again at the end, but is otherwise rather robust with echoes of Stravinsky and Hindemith, with soothing sections being interwoven again and again.
Throne (1988) for clarinet and piano has the most avant-garde character. It gives both partners time to juggle sounds of all kinds. The pianist has to create different effects and – as it sounds – prepare his instrument à la John Cage beforehand. It is composed of the chain of associations elevation, unity, diamonds, crown, glory, velvet, fragility, decay, oblivion, nothing, which is why the piece ends with a long general pause.
The four-movement Piano Quintet (2016) is cyclical, beginning with an innocent major melody depicting the slow awakening of a flower with the outstretching of the petals. In the course of the day, this is stretched and stressed differently in the following sentences, only to return at the end in an almost unchanged form and the petals to close. The movements all end with the same refrain. This is understandable from the program point of view, but in this case it must be a fairly robust flower.
Congenial interpretations
In keeping with the composer's intentions, clarinetist Jonas Frølund and pianist Manuel Esparilla are more in the limelight than Christine Pryn, Isabelle Bania (vl.), Mina Fred (va) and John Ede (vc.). Frølund has an almost endless breath. The beautiful sound of the tones in the three-pitched octave in all dynamic degrees has to be imitated first. Also very convincing is his extremely precise intonation in unison passages with piano both in ff and in pp and his flageolets are really delicious. Esperilla realizes his rhythmically tricky part very convincingly. The strings add color and wonderfully precise intonation to the soundscapes with stimulating chords.
In terms of recording technology, the events are depicted vividly and with a wide range of dynamics. And who better to comment on his works than the creator himself?
Conclusion: A SACD for people who are open to contemporary music. Anyone who drops out of Messiaen should better keep their hands off it, unless they are a clarinetist. Because this is a mandatory purchase!